
Radierung von Hans Scheib
Winfried Sühlo hielt am 12. Oktober 2016 die Ansprache zur Eröffnung der Ausstellung
Kaltnadelradierungen von Hans Scheib:
ZEITGENOSSEN
Unsere Ausstellung stellt ein Genre von Arbeiten des Künstlers vor, die wir noch nicht so oft wahrgenommen haben. Allein schon deswegen sind sie aufregend für uns.
Ich spreche nicht als Kunsthistoriker mit einer entsprechenden analytischen Distanz. Ich rede von persönlichen Begegnungen und Betroffenheiten. Es ist wunderbar, wenn ein Betrachter in diesem Sinn ergriffen werden kann.
Das erste, was mir wichtig ist: Hans Scheib hat eine enge Bindung an Geschichte. Genauer: an die Zeitgeschichte. Zuerst ist es seine Geschichte, die eigene Lebensgeschichte. Das ist auch unsere Geschichte. Wir gehören zu seinem Umfeld, zur unmittelbaren Zeitgeschichte, wir alle sind Zeitgenossen, egal, ob seine kalte Nadel aus Stahl unsere eigenen Linien bereits in die Metallplatte geritzt hat.Es entstehen verschieden tiefe Linien auf der Platte, es entstehen Grate, die entsprechend unterschiedlich auf die für den Druck aufgetragene Farbe reagieren, mit ihr umgehen. Man möchte sagen, das Entstehen des Bildes sei eine Gratwanderung.
Einmal saß ich in einem kleinen georgischen Dorf neben Scheib auf einer bäuerlichen Holzbank, er hatte die Metallplatte in einer Handfläche verborgen, das Ritzen der Nadel geschah mit der anderen, es war leise zu hören, etwas unheimlich diese gelassene Arbeit, ein ganz intimer Schöpfungsakt. Ich dachte: der Drucker hat einen harten Job.
Scheib ordnet und nummeriert die entstandenen Arbeiten – auch andere Techniken sind dabei – streng nach der Zeit ihrer Entstehung. Das ist für ein Werkverzeichnis, das so entsteht, nicht ungewöhnlich. Die Blätter erhalten verschiedenartige Titel – Namen der Personen, Ziffern, kurze Sätze.
An den Anfang jeden Jahres des so entstandenen Werkverzeichnisses setzt Scheib einen kurzen Text oder einen Satz, der die aktuelle Lebenssituation trifft. So wird dieses Verzeichnis der Drucke zu einem eigenen Kunstwerk aus Text und Abbildungen, zu einem Geschichtsbuch. Eine Werkgeschichte als Lebensgeschichte, oder umgekehrt.
Was ist mir bei der Lektüre besonders aufgefallen? 1982 schreibt Scheib:
Im Frühjahr beantragte ich die Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR für mich und meine Familie. Es wurden drei anstrengende Jahre. Aus der Arbeit an der Mappe “9. Stunde”, natürlich im Selbstverlag, erwuchs Freundschaft mit dem Dichter Uwe Kolbe. Im Herbst fragte mich der Dramatiker Heiner Müller, ob ich Illustrationen für sein erstes nobles Buch im Reclam-Verlag Leipzig machen wolle – die Übersetzung von Shakespeares “Wie es Euch gefällt”. Ich war begeistert. 1983 findet sich im Kontext des erwähnten Buchprojektes bei Scheib der Satz: “In diesem Zusammenhang begann ich auch ein Interesse an der Selbstdarstellung der Regierenden zu entwickeln.”
An anderer Stelle schreibt Scheib: “Ähnlichkeit ist Zufall. Sie ist beim Porträtieren das Unwesentlichste.”
Ich war aufgeregt. Die Frage stellte sich ein: Was bewirkt beim Betrachter die Spannung, die notwendig zwischen dem Wunsch nach hinreißender Selbstdarstellung auftretender Personen und der unbarmherzigen kalten Nadel von Hans Scheib entsteht? Finden Sie es heraus, die Abbildungen hängen hier an vier Wänden.
Es gibt Titel der Arbeiten, die aus der aufgezeigten Spannung ein Geheimnis machen können. Da steht:
Kopf
Diepgen jagt die Roten
Person
Scheusal
Arschlöcher! Alles Arschlöcher!
Für Helmut Kohl finden wir:
Buße ohne Reue
Auftritt H. Kohl
The Walrus
Autorität
Liebe Mitbürgerinnen…
Die Ausstellung wird also ein Abenteuer. Die Jahreszahlen geben eine zusätzliche Orientierung. Es ist ein faszinierendes Geschichtsbuch entstanden, das auch Spielräume für unsere Wahrnehmungen bietet.
Mir kam die “Heisenbergsche – oder Scheibsche – Unschärferelation” in den Kopf. Aber das ist natürlich eine semantische Spielerei.
Für diese Ausstellung und für das zitierte Werkverzeichnis Kalte Nadel bleibt der Schlußsatz unserer Einladung an Sie:
Es entstand über die Jahre eine Folge faszinierender Bilder von Personen, die persönliche Sicht des Künstlers, seinen Weg durch die Zeit beschreibend, ein Panorama unserer Tage.
Eine persönliche Anmerkung zum Schluss. Ich habe ein anderes Buch zur angesprochenen Zeitgeschichte geschrieben: “Der rote Koffer. Mein Blick auf ein gespaltenes Land.” Es ist ein Buch erzählter Geschichte, das Ähnlichkeiten zu Darstellungen von Hans Scheib enthält. Wir haben uns sicher ergänzt. Es enthält zehn Kaltnadelradierungen von Scheib, die auch hier in der Ausstellung zu sehen sind.