Der Autor arbeitete in der zweiten Reihe sozialdemokratischer Politik – in den 70er Jahren in Bonn, in den 80er Jahren in Berlin, in den 90er Jahren in Kiel, er war ein klassischer Wanderarbeiter im politischen Gewerbe. Wo ihn die Partei benötigte, ging er hin. Im Zentrum seiner Erinnerungen steht seine Tätigkeit an der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik bei der DDR. Nicht, weil das offenkundig den Zenit seiner politischen Laufbahn bedeutete, sondern weil er dort die zweite deutsche Republik von innen erlebte. Da passierte mehr als in anderen Zeitabschnitten. Er war aufgeschlossen wie Gaus, neugierig wie Bahr, aber nicht so wie diese auch analytisch begabt. So beschreibt er denn große politische Prozesse mitunter ein wenig unbedarft, berichtet jedoch ausführlich über Land und Leute, insbesondere über seine Begegnungen mit Künstlern. Sühlo war in allem, was er tat, unvoreingenommen, offen und ehrlich, er bedient folglich weder die heute gängigen Vorurteile noch Klischees, die über die DDR verbreitet werden. Seine Sicht ist die eines Westdeutschen ohne Scheuklappen. Das macht seine Autobiografie zu einem auch für Historiker interessanten, objektiven Zeugnis. Und für normale Leser zu einem informativen Lesestoff. (Wilhelm Breitenbach)
Autorenexpress zur Leipziger Buchmesse
“Der rote Koffer”:
überraschendes Buch zur deutschen Nachkriegsgeschichte
“Leipzig liest”, das bewunderte Lesefest der Leipziger Buchmesse, fand in diesem Jahr bei vielen Gesprächen ein unmittelbares Thema in der von innen und außen gefährdeten Einheit unseres größeren Lebensraums – der Europäischen Union. “Echoraum der europäischen Unruhe” überschrieb die Süddeutsche Zeitung ihren Bericht über Messe und Lesefest. Ich fragte mich, ob wohl die von vielen vermisste innere Einheit Deutschlands in diesem Rahmen noch Gegenstand besorgter Erörterungen sein würde.
Im Programm von “Leipzig liest” fand ich die Ankündigung einer Veranstaltung, Lesung und Gespräch, bei der ein Buch zur deutschen Zeitgeschichte 1945 bis 1995 vorgestellt werden sollte: “Der rote Koffer – Mein Blick auf ein gespaltenes Land” hat der Autor Winfried Sühlo sein Werk genannt. Neugierig geworden kaufte ich mir das Buch, fing an zu lesen, und beschloss die Vorstellung zu besuchen.
Ort war das “Zeitgeschichtliche Forum” im Herzen Leipzigs. Etwa 40 Interessenten waren abends um 21 Uhr in einem angenehm ruhigen Saal zusammen gekommen. Auf dem Podium saßen bekannte Leute: die Schriftstellerin Irina Liebmann, der Karikaturist Klaus Staeck, und Thomas Krüger, Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung. Krüger hat für das Buch einen Epilog geschrieben: “Plädoyer für eine Kultur der integrierten deutschen Nachkriegsgeschichte.” Mit diesem Text legt er seinen Finger auf eine offene Wunde unserer gegenwärtigen Ost-West-Diskussion: in der historischen Betrachtung Deutschlands nach 1945 reden wir beständig aneinander vorbei.
Der Verlauf des Abends belegte die Diagnose. Sühlo provozierte mit einer kurzen Passage aus seinem Buch: 1952 – Verpasste Chancen. Allein der Gedanke, im Umgang des Westens mit der Stalin-Note könne wirklich etwas verpasst worden sein, belebte die kontroverse Stimmung im Saal. Klaus Staeck schleuderte seine Verachtung für den Politiker Konrad Adenauer in den Raum, der Irina Liebmann nur zustimmen konnte. Dabei hätte es genügt, der Autor hätte das von ihm verwendete, sehr gelassene Zitat von Willy Brandt über den Politiker Adenauer vorgelesen: “Und doch kann man im Abstand der Zeit ohne falsche Betonung sagen: Wir alle sind Erben dieses bedeutenden Mannes, der Aktiva und der Passiva seiner Bilanz.”
Man sollte Sühlos Buch tatsächlich lesen. Ich habe selten eine so kluge und nüchterne Darstellung deutsch/deutscher Zeitgeschichte nach 1945 gefunden. Er war in der Administration der alten Bundesrepublik für deutschlandpolitische Fragen zuständig und verbindet seine sehr persönlichen Erfahrungen mit der großen Geschichte, die er kritisch und genau beobachtet hat. Das macht sein Buch interessant für alle Zeitgenossen, die keinen Zugang suchen zu einer Diskussion dieser Fragen auf wissenschaftlicher Ebene. Das vielfältige Mosaik seiner erzählten Geschichten gibt ein Abbild unserer deutschen Befindlichkeiten und Veränderungen. Sie können ein Anstoß sein im Sinn des Epilogs von Thomas Krüger. Inzwischen stellt der Autor sein Buch in den Oberstufen Berliner Gymnasien vor. Unter den Schülerinnen und Schülern findet er interessierte und nachdenkliche Vertreter der jungen Generation, die gern zuhören und nachlesen.
Der Abend im Zeitgeschichtlichen Forum fand einen versöhnlichen Ausklang. Sühlo las noch eine Seite des Buches aus seiner Zeit an der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik bei der DDR. Es ging um die Trauerfeier für Anna Seghers – ein kleines Feuilleton über deutsche Befindlichkeiten in Berlin 1983, das die Anwesenden berührte.
Godehard Späth