Ein roter Faden für den Roten Koffer

(Gedankliche Kurzfassung meines Buches “Der rote Koffer. Mein Blick auf ein gespaltenes Land”; April 2017).

1)        Das Buch beginnt mit einem Bericht meines Bruders (*1926) aus seinen “Denkwürdigkeiten eines sinnlosen Krieges”; (privates Manuskript 2003), die den Wahnsinn der Zeit bis 1945 dokumentieren können (S. 17). In einem Resümee folge ich dem britischen Historiker Ian Kershaw, der  2011 in seinem Buch “Das Ende. Kampf bis in den Untergang”  eine Bilanz des Naziwahns 1944/45 gezogen hat.
Mein Schluss (S. 25): “Es konnte nicht anders sein: die Menschen in diesem Land waren nach allem, was sie erleiden mussten, und nach allem, was sie selbst getan hatten, schwer traumatisiert. … Die psychische Labilität der Deutschen blieb ein Schrecken für alle, die Schritte auf dem Weg zu politischer Vernunft zu gestalten versuchten”.

2)        Auf Seiten der deutschen Politik stelle ich zwei “große Gegenspieler” heraus, die sich schon vor Gründung von zwei deutschen Staaten 1949 auf dem Gebiet der westlichen Besatzungszonen als herausragende, eigenwillige Persönlichkeiten eines künftigen Weststaates gegenüberstanden: Kurt Schumacher (SPD) und Konrad Adenauer (CDU) (S. 46). Beide Politiker finden das Gespräch miteinander, im Wahlkampf schenken sie sich nichts. Nach den Wahlen zum ersten Bundestag im August 1949 vermag Adenauer eine Regierung ohne Beteiligung der SPD zu bilden, eine Große Koalition ist nicht notwendig. Die Mehrheit ist hauchdünn, für die SPD eine tiefe und bittere Enttäuschung und eine verspielte Möglichkeit.

Die deutschlandpolitischen Profile beider Politiker sind anfangs durchaus ähnlich. Adenauer spielt die Möglichkeiten einer deutschen Neutralität durch, entscheidet sich  dann für eine Politik konsequenter Westbindung, die eine frühzeitige Vereinigung beider Staaten in die Ferne rückt. Nach der Stalin-Note vom März 1952 verlangt Schumacher, die westlichen Mächte hätten die Angebote Moskaus sorgfältig zu prüfen und Verhandlungen aufzunehmen, Adenauer trifft die falsche Entscheidung, sie in ihrer Ablehnung zu bestärken. Einzelheiten beschreibt das Kapitel “1952 – Verpasste Chancen” (S. 56). Kurt Schumacher stirbt am 20. 08. 1952.

3)        Im Mai 1955 treten die Pariser Verträge in Kraft – Adenauer verkündet vor dem Parlament, die Bundesrepublik Deutschland sei souverän. Eine Fahne wird aufgezogen. Die Staats- und Regierungschefs der vier Alliierten treffen sich im Juli – zehn Jahre nach der Konferenz von Potsdam – in Genf zu einer Gipfelkonferenz, auf der sie sich gegenseitig das Fortbestehen ihrer Rechte und Pflichten in der deutschen Frage bestätigen. Das ist ihr zentrales Anliegen. Ihre Außenminister erhalten eine “Direktive” für weitere Verhandlungen im Herbst, die nichts erbringen.

Am 7. Juni bekommt der Bundeskanzler eine Note der UdSSR, mit der er zu einem Besuch in Moskau eingeladen wird: die Aufnahme diplomatischer und Handels-Beziehungen zwischen beiden Staaten solle besprochen werden. Das ist ein unerwarteter Schritt der sowjetischen Deutschlandpolitik, einige halten ihn für eine Sensation. Adenauer will der Einladung auf jeden Fall folgen, er will diplomatische Beziehungen zu Moskau. Seine engen politischen Berater raten von dem Besuch ab. Er fliegt im September. “Adenauer reist nach Moskau” (S. 62 – 66) beschreibt diese verrückte Geschichte und bewertet die Ergebnisse (Heimkehr der letzten Kriegsgefangenen aus der SU; Botschafter-Austausch; Wut und Unverständnis im Westen, Erleichterung zu Hause). Ich ziehe Bilanz für 1955 und wundere mich über die erstaunliche Ignoranz in der Berlin-Frage: “Ein Hauch von Entspannung zwischen Ost und West” (S.66 ff).

4)        1959 von Hannover zum Studium der Geschichte in die “heimliche Hauptstadt” München: bayrische Liberalität? Auf dem Katheder: Franz Schnabel und Romano Guardini (S. 73).

Auf der Bühne: Fritz Kortner, zurückgekehrt aus dem Exil (Dantons Tod, S. 76). Exil als Teil deutscher Geschichte wird lebendig – mein erster Zugang zum “Heimkehrer” Bertolt Brecht (S. 77- 86). Beginn meiner Nähe zu ihm als politischer und literarischer Person.

Erste Reise in die DDR: im März 1961 bei Schwestern meiner Mutter in Altenburg, Dresden, Leipzig (S. 89). Ich entscheide mich für den Studienort Berlin-West (S. 93). Ich erlebe den Bau der Mauer und gebe meine Analyse in einem Leserbrief (S. 99). Im Buch erfasse ich Adenauers Politik in einer “Nachbemerkung” (S. 100 -108). Sie ist eine gelassene, kritische Würdigung, die seine Fehler benennt.

Zu meinen Berliner Erfahrungen gehören die “Wege in die Revolte”, ich mache sie fest am Theater Piscators (Hochhuths Stellvertreter – S. 126; Peter Weiss’ Ermittlung – S. 130), verstanden als Schritte zur tieferen Einsicht in die deutschen Verbrechen der Nazi-Zeit. Ich beschreibe die “Spiegel-Affäre” (S. 125f). “Trauer und Zorn auf das eigene Land” entstehen beim Tod von Benno Ohnesorg (Schah-Besuch 1967, S.132-140).

5)        Mein erster Job nach dem Studium: Forschungsinstitut der “Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP)” bei München, das die Bundesregierung beraten soll. Mein Arbeitsgebiet: eine andere Deutschlandpolitik? Ich lande im “Streit um eine Anerkennung der DDR” (S.156), und erlebe, wie die Politik 1969 die Wissenschaft  überholt (S. 161); das wurde Zeit.

Im Herbst 1971 zurück in Berlin widme ich mich an der FU dem Fachgebiet “Zeitgeschichte nach 1945”. Am 3. September unterzeichnen die Botschafter der Vier Mächte am Kleistpark in Schöneberg das Berlin-Abkommen. In meinen Augen ist es die Krone der inzwischen ausgehandelten Ostverträge, ohne die das Ganze niemals zum Leuchten hätte gebracht werden können (korridorähnlicher Transit ohne individuelle Gebühren!).

6)        1978 führt mich mein berufliches Schicksal in die politische Administration nach Bonn. Seit Januar arbeite ich für die Planungsabteilung im Bundeskanzleramt. “Deutschland im Herbst” heißt der Film, in dem wichtige Filmemacher die Lage im  Land nach den Terroranschlägen der RAF zu erfassen suchen. Wir beauftragen im Amt externe sozialwissenschaftliche Studien zum Links- und Rechtsextremismus, deren Ergebnisse noch heute nachdenklich stimmen (S. 223-226).

Ich bewundere die Gelassenheit von Helmut Schmidt, der in einer Rede vor Historikern im Oktober 1978 ausführt: “Was die Zukunft der deutschen Nation betrifft, so müssen wir nüchtern feststellen, dass die politischen Konstellationen in der Gegenwart keine Möglichkeiten bieten, die Teilung Deutschlands in zwei Staaten zu überwinden. Und wenn die beiderseitige Arbeit zur Entspannung zwischen diesen beiden  durch eine neue Konfrontation abgelöst würde, so hätte darunter niemand mehr zu leiden als die Deutschen, insbesondere die auf der anderen Seite” (S.229).

7)        Mit diesen Sätzen im Kopf beginne ich im April 1983, nach dem Wechsel im Amt des Bundeskanzlers zu Helmut Kohl, meine Tätigkeit in der Ständigen Vertretung in Berlin (Ost). Meine Erlebnisse und Erfahrungen in der DDR habe ich in diesem Buch mit Empathie zu beschreiben versucht. Die Begegnungen mit Menschen berühren.

Auch bei den folgenden Tätigkeiten in der Kieler Staatskanzlei von Ministerpräsident  Björn Engholm und danach als Kulturstaatssekretär im vereinigten Berlin bleiben “deutsche Fragen” erhalten. Am 31. Januar 1989 macht Engholm Staatsbesuch bei Erich Honecker. Günter Gaus ist dabei. Ist die DDR am Ende? Wir haben keine Antwort auf diese Frage. Im Herbst wird klar: wir erleben “das Absterben der DDR”.

Ich gebe einen kurzen Bericht über den Besuch Egon Krenz’ in Moskau bei Michail Gorbatschow am 31. Oktober 1989 (S. 315f). Das Ende ist erreicht. Ein Ausweg zeigt sich nicht. Meine Bilanz nenne ich “Keine Bilanz” (S. 334-336), denn die Einheit ist nicht vollendet. Ich hoffe, mein Buch hat seine guten Seiten. Ich telefoniere mit Friedo Solter, mit dem ich vorher nie einen Satz über die Mühen beim Schreiben gewechselt habe. Jetzt liegt der Band in Usedom auf seinem Lesetisch. Er sagt, er habe schon einiges aufgenommen von dem, was ich erzähle. “Du bist ein Flaneur der deutsch/deutschen Politik, der deutschen Zeitgeschichte”. Keine Frage: das gefällt mir.